Die Demobeobachtung Leipzig begleitete am heutigen Tag, den 16.06.2018, den Protest des Bündnisses „pro choice Sachsen“ bestehend aus der Demonstration „Leben schützen: Abtreibung legalisieren!“ und dem Straßenfest „Emanzipatorische Utopien erleben“ in Annaberg-Buchholz. Der Protest richtete sich gegen die zeitgleich stattfindende Veranstaltung „Schweigemarsch für das Leben“. Neben dem Demonstrationsgeschehen wurde auch die An- und Abreise der Demonstrationsteilnehmenden aus Leipzig begleitet.
Nach dem Straßenfest auf dem Fleischerplatz startete die Demonstration kurz nach 14 Uhr. Die Route führte über die Untere Schmiedegasse und Emil-Fink-Straße zur Route des „Schweigemarschs“. Nachdem der „Schweigemarsch“ vorübergezogen war, folgte der Gegenprotest diesem auf der Adam-Ries-Straße und Wolkensteinerstraße zum Markt. Dort fanden im Anschluss parallel zueinander die Abschlusskundgebungen statt. Nachdem diese gegen 16:30 Uhr beendet waren, setzten die Teilnehmenden der Gegendemonstration ihren Protest in Form des Straßenfestes für weitere zwei Stunden fort.
Die polizeiliche Präsenz, Einheiten aus Leipzig und Chemnitz (Bereitschaftspolizei und Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) und Polizei aus Tschechien, nahm erheblichen Einfluss auf die Außenwirkung der Versammlung. Gleich von Beginn an fuhr die Polizei mit einem Einsatzfahrzeug am Kopf der Demonstration, auf dem sich eine vergitterte Aussichtsplattform befand, auf der zwei Beamt*innen platziert waren. Dies verhinderte zum einen die, durch die engen Straßen von Annaberg-Buchholz ohnehin eingeschränkte, Sichtmöglichkeit auf die Demo von vorne, zum anderen wurde dadurch die erste Wahrnehmung der Demonstration für Außenstehende durch die polizeiliche Präsenz bestimmt. Nachdem sich die Routen der zwei Demonstrationen an der Emil-Fink-Straße trafen, wurde der Protestzug nun nicht mehr nur vorne, sondern auch seitlich und von hinten von Einsatzkräften begleitet. Darüber hinaus führte ein*e Polizist*in einen Granatwerfer (Gaskartuschen) bei sich. Dieses Auftreten der Polizei suggerierte eine Gefährlichkeit des Protests, die nicht bestand. Wird eine Versammlung aufgrund überzogenem polizeilichem Einsatz als gefährlich wahrgenommen, so führt dies dazu, dass ihr die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung, geschützt von Art. 8 I GG, erschwert wird.
Im Laufe des Protestes kam es zu mindestens zwei Identitätsfeststellungen. Bei einer der Identitätsfeststellung, die zwei Demobeobachter*innen betraf, wurde von der Polizei auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Identität ebenso nach § 19 I Nr. 5 SächsPolG festgestellt werden könne. Hierbei handelt es sich um die Möglichkeit die Identität in Grenzgebiet (30 km) festzustellen. Aber auch hier ist die Feststellung nicht anlasslos möglich, sondern darf nur zur vorbeugenden Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität erfolgen. Ein solcher Zusammenhang kann im Kontext einer Versammlung, wie der heutigen, ausgeschlossen werden, da das Vorliegen grenzüberschreitender Kriminalität offensichtlich nicht gegeben war. Vielmehr entsteht so der Eindruck, dass die Polizei die Identitätsfeststellung nach § 19 I Nr. 5 SächsPolG zu einer anlasslosen Kontrollmöglichkeit pervertiert. Dies lässt befürchten, dass der Umgang mit den angedachten und bedeutend grundrechtssensibleren Ausweitungen der Maßnahmen im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Kriminalität wahrscheinlich ähnlich lax gehandhabt werden wird. Ebenso problematisch stellte sich die zweite Identitätsfeststellung dar. Nach Angaben der Beamt*innen, die die Maßnahme durchführten, war allein die erhobene Stimme des*der Betroffenen Anlass der Maßnahme. Dies stellt keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dar, was aber Voraussetzung für eine Identitätsfeststellung nach § 19 I Nr. 1 SächsPolG ist.
Noch während der Demonstration, am Übergang der Adam-Ries-Straße zur Wolkensteinerstraße kam der Verdacht auf, dass zwei Polizist*innen in Zivil am Rande der Demonstration standen. Auf Nachfrage der Demobeobachtung gaben sie sich als solche zu erkennen. Vor Beginn der Demonstration hatte es durch die Versammlungsleitung die Aufforderung gegeben, dass sich Beamt*innen in Zivil dieser zu erkennen geben, wie es auch §§ 18 I i.V.m. 11 II 1 SächsVersG vorschreibt. Dies geschah jedoch nicht. Vielmehr gab die Polizei an, dass keine Beamt*innen in Zivil anwesend seien. Die Anwesenheit von Polizeibeamt*innen in Zivil bei der Versammlung ist demnach rechtswidrig, weil die Zivilbeamt*innen ihrer Legitimationspflicht nach §§ 18 I i.V.m. 11 II 1 SächsVersG nicht nachgekommen sind. Hierdurch wurde in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG eingegriffen [VG Göttingen, Urteil vom 06.11.2013 – 1 A 98/12].