Am 1. Juni 2019 begleitete die Demobeobachtungsgruppe Leipzig die Gegenproteste zum sogenannten „Tag der Deutschen Zukunft“ in Chemnitz.Der Demonstration unter dem Motto #NoTddZ, zu der das Bündnis Chemnitz Nazifrei aufgerufen hatte, ging eine Spontandemonstration voraus, die gegen 10:30 Uhr am Bahnhof Chemnitz-Küchwald startete. Gegen 12:00 Uhr schloss sich die Spontandemonstration der Auftaktkundgebung am Omnibusbahnhof (Straße der Nationen) an. Die Demobeobachtungsgruppe Leipzig beobachtete das polizeiliche Verhalten während dieser Demonstrationsgeschehen.
Rechtswidrige Bild- und Tonaufnahmen
Schon im Verlauf der Spontandemonstration kam es zu rechtswidrigen polizeilichen Maßnahmen. Kurz nachdem sich die Spontandemonstration am Ersatzhalt Chemnitz-Küchwald in Bewegung gesetzt hatte, wurde sie von einem Kamerawagen videografiert. Auf Nachfrage wurden diese Aufnahmen als Übersichtsaufnahmen bezeichnet. Gem. § 20 II sächsischem Versammlungsgesetz (sächsVersG) sind solche Übersichtsaufnahmen nur dann zulässig, wenn und soweit dies wegen der Größe der Versammlung oder Unübersichtlichkeit der Versammlungslage zur Lenkung und Leitung eines Polizeieinsatzes im Einzelfall erforderlich ist. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Spontandemonstration aus ca. 150 Personen, die sich friedlich der Hauptdemonstration am Omnibusbahnhof anschließen wollten. In der konkreten Situation war es für die Versammlung nur möglich, sich in eine Richtung zu bewegen. Weder die Größe der Demonstration, noch eine etwaige Unübersichtlichkeit rechtfertigten also die Aufnahmen, sodass hier von einer eindeutig rechtswidrigen Maßnahme ausgegangen werden muss.
Leider setzte sich dieser laxe Umgang mit den Anforderungen an die Bild- und Tonaufnahmen im weiteren Verlauf des Tages fort. Fraglich war nicht nur das Fotografieren der Versammlung durch eine Einsatzkraft, die auf Nachfrage erst von einer privaten Aufnahme sprach, um sich dann zu berichtigen und nun doch eine dienstliche Übersichtsaufnahme gemacht haben wollte. Auch wurden mehrfach Videoaufnahmen mit vorangegangenen, zeitlich bereits abgeschlossenen Situationen begründet. Teilweise wurde pauschal auf eine Gefahrenlage verwiesen. In der Gesamtschau gab es wenige Momente, in denen die Versammlung nichtvideografiert wurde.
Grundsätzlich stellt jede polizeiliche Bildaufnahme einen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) dar und darf daher nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen. Neben dem oben genannten § 20 II sieht das sächsische Versammlungsgesetz § 20 I als Grundlage für Bild- und Tonaufnahmen vor. Konkret werden hier tatsächliche Anhaltspunkte gefordert, die die Annahme rechtfertigen, dass von den betroffenen Personen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei oder im Zusammenhang mit der Versammlung ausgeht. Bei der Auslegung dieser Eingriffsgrundlage ist der zentrale Stellenwert der Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen zu beachten (vgl. hierzu BVerfG, Beschluß vom 14-05-1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81). Hinzukommt, dass das Bundesverfassungsgericht bei solchen Maßnahmen, die keine konkrete Gefahr verlangen, besondere strenge Anforderungen aufstellt (BVerfG, Beschluß vom 3. 3. 2004 – 1 BvF 3/92).
All dies führt dazu, dass die Polizei § 20 II sächsVersG nicht als Blanko für eine Totalüberwachung des gesamten Demonstrationsgeschehens missbrauchen darf. In Hinblick auf den besonderen Stellenwert der Versammlungsfreiheit und den grundsätzlichen Anspruch auf einen staatsfreien und unreglementierten Charakter der Versammlung, darf es nicht zu übermäßigen Observationen und Registrierungen kommen (vgl. BVerfG, Beschluß vom 14-05-1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81). Mit den exzessiven Aufzeichnungen der Versammlung hat die Polizei hiergegen verstoßen.
Übermäßige Polizeipräsenz prägte die Außenwahrnehmung
Permanent wurde die Demonstration von einer hohen Zahl an Polizist*innen begleitet. Schon zu Beginn ging dem Demonstrationszug eine geschlossene Reihe behelmter Beamt*innen voraus, seitlich war der Demonstrationszug teilweise von 4 Reihen Beamt*innen, sowie geschlossenen Reihen von Polizeifahrzeugen eingerahmt. An mehreren Stellen wahrten die Polizist*innen dabei keinen Abstand zur Demonstration, wie beispielsweise in der Müllerstraße, wo der Demonstrationszug auf der linken Seite zeitweise von 3 Reihen Polizist*innen gesichert wurde, wobei sich eine Reihe und damit 50-60 Beamt*innen quasi in der Demonstration befanden. Auch am Brühl wahrten die Polizist*innen keinen Abstand. Auch den wiederholten Forderungen von Seiten der Versammlungsleitung, mehr Abstand einzuhalten, kamen die Einsatzkräften nicht nach. Weder das Front- noch die Seitentransparente waren so für Außenstehende wahrnehmbar. Transparente sind ein wichtiges Mittel, um die Sichtbarkeit von Überzeugungen herzustellen, weshalb ihr Zeigen unter den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 I GG fällt (vgl. zum Entrollen von Transparenten: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Juni 2014 – 1 BvR 980/13). Dieses Mittel wurde der Demonstration durch das Auftreten der Polizei während der meisten Zeit des Geschehens verwehrt. Außerdem war durch die zahlreiche und enge Begleitung der Demonstration die polizeiliche Präsenz für Außenstehende dominierend. Das Tragen von Helmen mit teilweise geschlossenen Visieren der Beamt*innen suggerierte zudem schon ab Beginn der Demonstration eine Gefährlichkeit des Protests. Diese Beeinflussungen der Außenwahrnehmung schränkt Artikel 8 GG ein, der das Selbstbestimmungsrecht über die Art einer Veranstaltung gewährleisten soll. Wird eine Versammlung aufgrund überzogenem polizeilichem Einsatz als gefährlich wahrgenommen, so führt dies dazu, dass ihr die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung, geschützt von Artikel 8 I GG, erschwert wird.
Zugang zum Versammlungsgeschehen wurde erschwert
Die Abriegelung des Versammlungsgeschehens nach außen bestand nicht nur in visueller Hinsicht: Mehrfach wurden Demonstrierende, die zu der Versammlung hinzustoßen und an dieser teilnehmen wollten, von Einsatzkräften vehement und unbegründet zurückgewiesen. Dies geschah nicht immer nur verbal – Personen wurden zum Teil auch körperlich zurückgedrängt. In mehreren Fällen konnten sie erst nach Unterstützung durch andere Demonstrationsteilnehmer*innen zur Versammlung hinzustoßen. Wenn dies jedoch unter der „Auflage“ der Beamt*innen geschieht, sich nicht einem bestimmten Teil der Demonstration anzuschließen und von Gesten mit beleidigendem Charakter (Mittelfinger) begleitet wird, zeigt dies, dass der ungehinderte Zugang und auch die spontane Teilnahme an einer Versammlung von den Einsatzkräften nicht als schützenswert anerkannt werden. Dem Schutz des Art. 8 GG unterfallen nicht nur bereits bestehende Versammlungen, sondern auch der Vorgang des „Sich-Versammelns“, wozu eben auch der Zugang zu einer bestehenden Versammlung zählt (vgl. BVerfGE 84, 203 [209], BVerfGE 69, 315 [349]). Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel zeichnen sich schon ihrer Definition nach dadurch aus, von allen Seiten frei zugänglich zu sein. Solche Veranstaltungen dienen gerade dem Zweck, sichtbar nach außen in Erscheinung zu treten und Personen zur Teilnahme und zum Dialog zu motivieren. Die Abschirmung der Versammlung nach außen und die (auch vorübergehende) Abweisung von potentiellen Teilnehmer*innen untergräbt damit den Wesenskern des Versammlungsrechtes.
Nicht nur die Zurückweisung, auch die Abschreckung durch Kontrollmaßnahmen verletzt Art. 8 GG. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die zweifache Ankündigung von Polizeibeamt*innen, (selektive) Taschenkontrollen durchführen zu wollen. In einem Fall geschah dies gegenüber einer kleineren Gruppe von Personen, im anderen Fall gegenüber der Spontandemonstration, die sich dem Versammlungsgeschehen anschließen wollte. In beiden Fällen sahen die Beamt*innen von Kontrollen ab. Jedoch stellt bereits die Einrichtung einer solchen Kontrollstelle, bzw. die Ankündigung einer Kontrolle eine Hürde für Teilnehmer*innen dar und beschränken so ihr Recht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG.