Am 01.05.2019 fand in Erfurt eine vom Bündnis „Schnauzevoll“ angemeldete Demonstration unter dem Motto „Alles muss man selber machen“ gegen die Demonstration zum Wahlkampfauftakt der AfD für die drei Landesverbände Brandenburg, Sachsen und Thüringen statt. Die Demobeobachtung Leipzig begleitete das Demonstrationsgeschehen und den in diesem Zusammenhang stattfindenden Polizeieinsatz.
Nach einem Auftakt gemeinsam mit der Demonstration „Zusammenstehen“ des DGB um 9:00 Uhr vor der Staatskanzlei („Hirschgarten“) setzte sich die Demonstration „Alles muss man selber machen“ gegen 10:10 Uhr in Bewegung. In Begleitung von mehreren Polizeiwagen mit Blaulicht vor dem Demonstrationszug, sodass die Demonstration von vorne für Passant*innen nicht mehr sichtbar war, führte die Route zunächst Richtung Karl-Marx-Platz. Nachdem die Demonstration hier kurzzeitig von der Polizei am Weiterlaufen gehindert wurde, setzte sie sich über die Puschkinstraße in Richtung Herderstraße und weiter über die Uhlandstraße, die Gustav-Freytag-Straße, Am Hopfenberg und die Viktor-Scheffel-Straße bis zur Arnstädter Straße fort. Folgend war ein Zusammentreffen mit der Demonstration des DGB vor dem Landtag in der Johann-Sebastian-Bach-Straße geplant, um die Demonstration hier bei einem Fest zu beenden. Hierzu kam es durch das Eingreifen der Polizei nicht. Nach einer spontan angemeldeten Demonstration führte die Route stattdessen weiter durch die Arnstädter Straße bis zur Haltestelle Thüringenhalle. Die Beobachtung endete hier gegen 13:30 Uhr nachdem die Versammlung sich in Richtung des gemeinsamen Festes mit dem DGB auflöste.
Der Ablauf der Demonstration wich durch behördliches Eingreifen erheblich vom geplanten ab. Die Polizei verhinderte in rechtswidriger Weise, dass die Demonstration in der mit der Polizei vereinbarten Zeit ihre Route passieren konnte. Bereits 25 Minuten nach dem Beginn verzögerte die Polizei den Verlauf der Demonstration, indem sie diese stoppte, ohne hierfür eine stichhaltige Rechtfertigung vorzubringen. Einen besonders tiefgreifenden, nicht gerechtfertigten – und somit rechtswidrigen – Eingriff stellt die erneute Absperrung der Aufzugsroute 45 Minuten nach Versammlungsbeginn auf der Viktor-Scheffel-Straße dar. Unter Verwendung von Absperrgittern (sog. Hamburger Gitter) und Polizeifahrzeugen sperrte die Polizei um 10:56 Uhr die ganze Breite der Straße und ließ die Demonstration bis 12:18 Uhr nicht passieren. Die Versammlungsleitung sowie die Teilnehmer*innen der Versammlung wurden zunächst nicht über mögliche Gründe informiert. Doch auch die später vorgetragene Begründung greift nicht durch. Der Versammlungsleitung gegenüber wurde behauptet, dass nicht von der Versammlung, sondern von „so anderen Quellen“ zu Blockaden aufgerufen worden sei. Der Demobeobachtung Leipzig ist nicht bekannt, dass diese Angaben im weiteren Verlauf spezifiziert wurden. Die Voraussetzungen des § 15 III i.V.m. § 15 I des Bundesversammlungsgesetzes (VersG), der allein diese Maßnahme hätte rechtfertigen können, lagen nicht vor. Voraussetzung für eine Maßnahme nach § 15 III i.V.m. § 15 I VersG ist eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Eine solche Gefahr liegt vor, wenn der ungehinderte Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Interessen führt (BVerfG, NVwZ 2008 S. 671). Hierbei sind strenge Anforderungen an die Tatsachenbasis zu stellen, auf der die Prognose beruht. Die strengen Anforderungen erfüllt die Berufung auf eine Ankündigung aus „so anderen Quellen“ in keinem Fall.
Um 13:24 Uhr wurde ein*e Demonstrant*in festgenommen und in den ca. 50 Meter von der Demonstration entfernten Bereich, der durch Polizeiwagen und Polizeibeamt*innen abgeschirmt wurde, gebracht. Die anschließende Maßnahme fand somit isoliert von dem Demonstrationsgeschehen statt. Im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Vorwurf wurde die betroffene Person aufgefordert, sich zu vermummen, um Fotos anzufertigen. Eine Aufklärung darüber, dass ein Mitwirken an der eigenen Strafverfolgung keine Pflicht ist, fand nicht statt. Auf die Richtigstellung der Demobeobachtung, dass es diese Pflicht nicht gibt, antwortete ein*e Beamt*in: „Doch“. Die*r Rheinland-Pfälzische Beamt*in unterschlug hier den Grundsatz nemo tenetur (nach dem sich niemand selbst zu belasten braucht und der sich aus Art. 1 und 2 GG ableitet), der das Gegenteilige der hier getätigten Aussage, festschreibt. Diese Irreführung der sich in der Maßnahme befindenden Person erschwert ihr die Wahrnehmung der rechtsstaatlich garantierten Selbstbelastungsfreiheit. Dieser Umstand wurde durch folgende Situation noch verstärkt:
Ein*e Anwält*in stand ca. 50 Meter von der sich in der Maßnahme befindenden Person entfernt, hinter einer Polizeikette und war somit visuell abgeschirmt. Der rechtliche Beistand wurde, mit dem Hinweis darauf, dass die betroffene Person ihn anfordern müsste, nicht durchgelassen. Der*Die Demonstrant*in hatte kein Wissen über die Anwesenheit des*der Anwält*in. Nachdem Dritte zwischen Anwält*in, Demostrant*in und Polizei vermittelten, wurde der*die Anwält*in schließlich durchgelassen. Zu diesem Zeitpunkt war die Maßnahme jedoch bereits durchgeführt. Ein frühzeitiges Informieren der betroffenen Person über die Anwesenheit der*des Anwält*in hätte einen effektiven rechtlichen Beistand ermöglicht. Diesen Handlungsweg wählten die Beamt*innen nicht und erschwerten so die praktische Umsetzung des Rechts auf einen rechtlichen Beistand.
Dem Versammlungsgeschehen wohnten Polizeieinheiten aus Thüringen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Baden-Württemberg sowie Einheiten der Bundespolizei stets sichtbar bei. Räumungsfahrzeuge und Wasserwerfer befanden sich vor Ort. Auffällig war das zu großen Teilen einschüchternde und gewaltbereite Auftreten der Polizeibeamt*innen.
Exemplarisch hierfür ist die Situation zwischen 11:31 und 11:38 Uhr in der Humboldtstraße. Hier wurden Demonstrationsteilnehmer*innen durch ca. 30 Beamt*innen verschiedener Einheiten gewaltvoll in Richtung der Viktor-Scheffel-Straße, in der der Demonstrationszug festsaß, zurückgedrängt. Hierbei wurden Pfefferspray und Schlagstöcke eingesetzt. Einzelne Demonstrierende wurden zu Boden gerissen, mehrfach getreten und gegen ein Auto gestoßen. Demonstrationsteilnehmer*innen wurden in den Schwitzkasten genommen und an den Haaren gezogen. Eine betroffene Person, die von Sanitäter*innen versorgt wurde, wurde zunächst ebenfalls zurück in die Demonstration gedrängt. Die Beamt*innen gaben an, diese Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs stellten das mildestmögliche Mittel dar. Die Ausübung unmittelbaren Zwanges durch die Polizei ist in den §§ 58 ff. des Thüringer Polizeiaufgabengesetzes geregelt. Die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes körperlicher Gewalt in der geschilderten Intensität, sowie von Waffen in Form von Schlagstöcken (vgl. § 59 IV PAG Thüringen) und weiteren Hilfsmitteln des körperlichen Zwanges in Form von Reizmitteln (vgl. § 59 III PAG Thüringen) ist zweifelhaft. Ob der Einsatz dieser Zwangsmittel zuvor angedroht wurde (§ 62 III PAG Thüringen), konnte nicht von der Demobeobachtung Leipzig beobachtet werden. Nur wenige Minuten später ereignete sich eine ähnliche Situation in der parallel verlaufenden Ossietzkystraße. Während des Versammlungsgeschehens wurden Demonstrationsteilnehmer*innen mehrfach von Polizeibeamt*innen gewaltvoll zur Seite gedrängt und gestoßen. Eine Konfrontation mit einem solchen Verhalten kann eine einschüchternde Wirkung auf Demonstrationsteilnehmende ausüben. Eine abschreckende Wirkung bezüglich eventueller zukünftiger Teilnahmen an Demonstrationen kann nicht ausgeschlossen werden.
Einige Situationen wurden von Beamt*innen mit – meist mehreren – Handkameras aus einem Abstand, der die Identifikation von Demonstrationsteilnehmer*Innen zulässt, festgehalten. Auf Nachfrage gaben die Beamt*innen an, (vermutete) Straftaten zu dokumentieren. Dieses Videomaterial würde gesichtet und für die Strafverfolgung relevantes Material der Beweissicherung zugeführt. Nach § 12a I i.V.m § 19 VersG ist die Erstellung von Bild- und Tonaufnahmen im Zusammenhang mit einer öffentlichen Versammlung zulässig, sofern tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Zum Teil gaben die Beamt*innen zwar an, welche konkreten Tatsachen sie zu den Aufnahmen veranlassten. Die Aussage einer Beamt*in , bei einem „bestimmten Klientel“ sei von Verstößen oder Ordnungswidrigkeiten auszugehen, stellt allerdings keine gesicherte – das heißt auf konkrete Tatsachen gestützte – Gefahrenprognose (vgl. Erbs/Kohlhaas/Wache, Strafrechtliche Nebengesetze, 223. EL Januar 2019, VersammlG § 12a Rn. 1-7) dar und kann den Anforderungen des Versammlungsgesetzes nicht gerecht werden.
Besonders kritisch sieht die Demobeobachtung Leipzig den Einsatz mehrerer Kamerawägen, insbesondere zum Ende des Versammlungsgeschehens (ab 12:20 Uhr) auf der Arnsbacher Straße/Ecke M.-A.-Nexö-Straße. Hier waren Kameras über einen längeren Zeitraum direkt auf das Demonstrationsgeschehen (insbesondere die spontan gebildete Versammlung) gerichtet, ohne dass dem §12a I VersG entsprechende Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefahrenlage ersichtlich waren. Das Filmen der Versammlung stellt einen Eingriff in das durch Art. 8 GG gewährleistete Versammlungsrecht dar. Gleiches gilt auch bereits für den Eindruck, gefilmt zu werden, etwa durch ausgefahrene aber ausgeschaltete Kameras, da dies bereits eine einschüchternde und abschreckende Wirkung entfaltet (vgl. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2016, 98). Ein solcher Eingriff kann nur unter Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen gerechtfertigt sein, die Wahrung der Schrankenbestimmungen des § 12a (iVm § 19) VersG sind hier jedenfalls zweifelhaft.
Seit nunmehr zwei Jahren gilt in Thüringen eine Kennzeichnungspflicht von Polizist*innen in geschlossenen Einsätzen (bspw. bei Demonstrationen). Geregelt ist dies durch eine Verwaltungsvorschrift in einem ministeriellen Erlass (vgl. NVwZ 2018, 1530, 1532, Daimagüler: „Die individuelle Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten in geschlossenen Einsätzen“). Kennzeichnungspflichten für Polizeibeamt*innen können entweder im landesrechtlichen Polizeigesetz oder, wie eben in Thüringen, in einer Verwaltungsvorschrift geregelt werden. Wird die Pflicht durch eine Verwaltungsvorschrift, und nicht durch das Landespolizeigesetz, festgelegt, verpflichtet sie Beamt*innen aus anderen Bundesländern, welche im Wege der Amtshilfe für Großeinsätze anreisen, nicht. Dies bedeutet einen nur lückenhaften Schutz durch die Kennzeichnungspflicht in Thüringen. Aber selbst dieser lückenhafte Schutz wurde heute durch die Handhabung von einigen Polizist*innen noch weiter eingeschränkt. So unterwanderte eine Einsatzkraft aus Thüringen die Kennzeichnungspflicht, indem sie ihren Kragen so platzierte, dass nur die ersten beiden Ziffern erkennbar waren. Auf einen Hinweis der Demobeobachtung, dass die fünfstellige Nummer leider nicht erkennbar sei, reagierte die Einsatzkraft mit einem „Na und?“ und weigerte sich die Nummer sichtbar zu machen. Die*der Gruppenführer*in kam hinzu und weigerte sich ebenfalls zur Offenbarung der Kennzeichnung der Einsatzkraft beizutragen. In einer weiteren Situation wollten Demonstrationsteilnehmer*innen sich die Kennzeichnung einer Einsatzkraft notieren, als die nebenstehende Einsatzkraft dies bemerkte, hielt sie die Kennzeichnung ihres*ihrer Kolleg*in einfach mit der Hand zu. Außerdem verwiesen mehrere Polizist*innen darauf, dass sie wegen ihrer Schutzkleidung, welche über den eigentlichen Uniformen getragen werden, ihre Kennzeichnung nicht tragen müssten bzw. sie nicht tragen könnten, weil keine Befestigungsmöglichkeit vorhanden sei. Beides kann nicht mit der grundsätzlichen Kennzeichnungspflicht auf Demonstrationen durch Polizist*innen aus Thüringen bei einem Einsatz in Thüringen vereinbar sein.