Zum 01. Mai 2018 fanden in Chemnitz mehrere Protestveranstaltungen gegen die Demonstration der rechten Partei „Der III. Weg“ statt. Die Demobeobachtung Leipzig begleitete dabei das Geschehen rund um die Demonstration des Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“.
Die Teilnehmer*innen der antifaschistischen Demonstration versammelten sich ab etwa neun Uhr am Thomas-Mann-Platz. Gegen elf Uhr setzte sich der Aufzug durch den Stadtteil Chemnitz-Sonnenberg in Bewegung. Auf der Zietenstraße versuchten Teilnehmer*innen über die Ludwig-Kirsch-Straße näher an die Route der rechten Demonstration zu gelangen. Die Polizeikette, welche die Straße gesperrt hatte, verhinderte dies unter anderem, indem sie Pfefferspray in großen Mengen einsetzte. Dadurch wurde eine größere Anzahl von Menschen verletzt. Der Einsatz von Pfefferspray ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden (siehe Feltes, „Begrenztes Risiko“?Polizeilicher Einsatz von Pfefferspray bei Fußballspielen, in Bürgerrechte und Polizei CILIP 110). Pfefferspray ist als Kampfmittel in internationalen Konflikten durch das Abkommen über biologische Waffen von 1972 gegen Soldat*innen und Zivilist*innen in einem Krieg verboten.
Etwa eine halbe Stunde später begab sich ein größerer Teil der Demonstration erneut auf die Ludwig-Kirsch-Straße. Wieder wurden sie durch Polizeibeamt*innen unter Einsatz von Pfefferspray gestoppt. Gleichzeitig rannte eine sächsische Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit von hinten auf die Menge zu. Die Beamt*innen schubsten Teilnehmer*innen zu Boden, schlugen sie und traten eine bereits zu Fall gebrachte Person. Mindestens ein*e Teilnehmer*in wurde mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Die Polizist*innen setzten auch ihre Schlagstöcke ein. Dadurch kam es erneut zu mehreren Verletzten, die durch anwesende Sanitäter*innen versorgt werden mussten.
Anschließend kesselten die Polizeikräfte etwa fünfzig Personen auf der Ludwig-Kirsch-Straße ein. Die Demonstrationsteilnehmer*innen auf der Zietenstraße waren zunächst nicht Teil des Kessels. Nach etwa fünfzehn Minuten wurden jedoch diejenigen, die sich in der Nähe der Ludwig-Kirsch-Straße befanden, ebenfalls umstellt und dann dem bestehenden Kessel zugeführt. Auf Nachfrage erklärte die Polizei, dass es sich um eine Gewahrsamnahme handele. Diese betraf auch die anwesenden Sanitäter*innen, die Demobeobachtung und Anwohner*innen. Einige Personen, die sich auf dem Weg zur Versammlung an der Zietenstraße Ecke Augustusburger Straße befanden, wurden nach ihren Aussagen von Polizeibeamt*innen kurzerhand in den Kessel geschickt und nicht wieder hinaus gelassen. Nach einer Stunde informierte die Polizei die eingekesselten Personen erstmals darüber, dass sie allesamt von der Demonstration ausgeschlossen würden. Dieser Ausschluss stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit dar.
Anschließend wurden bei einem Teil der Personen aus dem Kessel Identitätsfeststellungen durchgeführt. Dabei schienen die Polizeibeamt*innen wenig Wert auf Professionalität zu legen: Eine Einsatzkraft führte eine Person im Polizeigriff aus dem Kessel. Als diese sich darüber beschwerte, entgegnete die Einsatzkraft: „Halt die Schnauze“. Ein*e andere*r Beamt*in ahmte höhnisch Personen nach, die angesichts der angewendeten körperlichen Gewalt laut schrien. Ob und wie bei einzelnen Personen körperliche Gewalt zur Durchführung der Maßnahme angewandt wurde schien eine willkürliche Entscheidung der einzelnen Beamt*innen zu sein. Eine genauere Beobachtung der Maßnahmen wurde anschließend durch die Polizei verhindert. Die Demobeobachtung Leipzig konnte jedoch protokollieren, dass mindestens eine Person in einen Gefangenentransporter gebracht wurde und zur Gefangenensammelstelle gefahren werden sollte. Noch während die Identität Einzelner festgestellt wurde, konnten nach knapp zwei Stunden die im Kessel verbliebenen Personen ohne weitere Maßnahmen den Ort verlassen. Ihnen wurde nun anscheinend doch nicht eine grobe Störung der Ordnung vorgeworfen, was aber gemäß § 18 Absatz 3 Sächsisches Versammlungsgesetz die Voraussetzung für den zuvor erfolgten Ausschluss von der Versammlung ist.
Einige von den zuvor eingekesselten Personen verlangten den Dienstausweis von den an der Maßnahme beteiligten Beamt*innen. Dieses Recht ergibt sich aus § 8 Sächsisches Polizeigesetz. Dieser verlangt sinngemäß, dass sich auf Verlangen der Betroffenen von Maßnahmen die Polizeibeamt*innen auszuweisen haben, sofern es die Situation zulässt. Dieser Vorschrift haben die Einsatzkräfte faktisch zuwider gehandelt: Einzelne Beamt*innen weigerten sich schlicht den Ausweis zu zeigen. Andere verwiesen auf ihre nicht näher benannten Vorgesetzten oder behaupteten ihren Dienstausweis im Auto liegen zu haben. Nach längerer Diskussion erklärte sich eine vorgesetzte Polizeikraft bereit ihren Dienstausweis zu zeigen. Sie holte diesen jedoch nur so kurz hervor, dass ein Lesen des Namens unmöglich war. Zwar muss der Ausweis nicht ausgehändigt werden; er ist jedoch so zu präsentieren, dass die darauf befindlichen Informationen zur Kenntnis genommen und gegebenenfalls notiert werden können (vergleiche Hartwig Elzermann, Polizeigesetz des Freistaates Sachsen, Kommentar für Praxis und Ausbildung, 5. Auflage, Stuttgart, 2014, § 8, Rn. 4; für mehr Informationen siehe Demobeobachtung Leipzig, Auswertung der Beobachtungen rund um die Proteste gegen LEGIDA, S. 26 ff.). Ihren Dienstausweis auf diese gesetzlich vorgeschrieben Weise zu zeigen, machte die Polizeikraft davon abhängig, dass die Betroffenen ihrerseits ihren Personalausweis vorlegen würden. Damit verkannte die Polizeikraft dass sie durch das Gesetz verpflichtet ist, während für eine solche Identitätsfeststellung der Betroffenen keine rechtlichen Voraussetzungen vorlagen. Zwar nannte sie noch ihren Namen, auf die Frage ob dieser „G, O ,…“ buchstabiert würde antwortete sie aber nur: „Kann schon sein.“
Auch abgesehen von diesen hervorgehobenen Situationen ist der Einsatz der Polizei zu kritisieren: Es wurden Kamerawagen, Handkameras, Hubschrauber, Wasserwerfer und Räumfahrzeuge beobachtet. Auch angesichts dessen, dass diese sowohl eine einschüchternde als auch eine abschreckende Wirkung auf die Demo haben können, muss sich die Polizei die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ihres Einsatzes gefallen lassen.